Zukunftspreis 2022 für Reparaturinitiative Café kaputt

von Simone Liss | 30.11.2022

Wolfgang Tietze ist 68, achtfacher Großvater, „DDR-sozialisiert“ und Freund der Tauschwirtschaft. Kurzum: Er hebt alles auf, was man noch gebrauchen könnte. Für Tietze haben Dinge einen Wert – ob Lötkolben, Maurerkelle oder Bohrmaschine.

Eine Frau und ein Mann sehen sich zusammen ein Bügeleisen an.
Blick auf die bunte Hinterhof-Ansicht eines Altbaus mit Graffitis und Pflanzen.

Das Café kaputt in der Merseburger Straße 102.

 Regelmäßig pendelt der Rentner von Wahren in den Westen – nach Altlindenau, in die Merseburger Straße 102. Dort, im Hinterhof, befindet sich das Café kaputt. Hier fragt keiner, woher man kommt und wie viel man hat, sondern was man tun kann. Tietze hat heute den Nickel-Cadmium-Akku seiner Bohrmaschine dabei. Der Akku lädt nicht mehr. Trotz Youtube-Tutorial und Wiederbelebungsversuch im Kühlschrank ist der Hobbymaler mit seinem Akku-Latein am Ende. Er braucht Hilfe. Diese findet er im Café kaputt. Der Reparaturhelfer Michael Hoffkamp teilt sein Wissen und Werkzeug mit Tietze. Die beiden Männer fachsimpeln über Inbus, Kreuz, Schlitz, Torx und ganz nebenbei löst sich der Akku in seine Einzelbestandteile auf.

Mehrere Personen stehen zusammen um eine Werkbank und unterhalten sich.

Voneinander lernen. Foto: Gunnar Warnecke

Voneinander lernen, miteinander Lösungen finden, Gutes bewahren, Gebrauchtes retten, Altes schützen – das ist der Ansatz des Reparaturcafés. Idealismus statt Materialismus. „Manche Menschen kommen mit Lieblingsgegenständen, manche mit Erbstücken, manche mit Dingen, an denen Erinnerungen hängen, manche, weil sie kein Geld für Neues haben oder sich bewusst gegen Neuanschaffungen entscheiden, weil sie konsumkritisch sind“, sagt Lisa Kuhley, Gründungsmitglied des Cafés, das es seit 2014 gibt. „Ob eine Tasse mit Sprung, Schuhe mit losen Sohlen, Stühle mit lockeren Beinen, Kaffeemaschinen, Toaster und Mikrowellen, die nicht mehr funktionieren, Schreibmaschinen und Staubsauger, die nicht mehr laufen, Rollkoffer, die nicht mehr rollen, Lampen, die nicht mehr leuchten – wir geben nichts und niemanden auf.“

Reparieren statt Wegwerfen

Idealistisch betrachtet, entscheidet sich auch in der 50 Quadratmeter großen Hinterhofwerkstatt Leipzigs Zukunft. Dort liegt ein Schlüssel, der der 600.000-Einwohner-Stadt das Tor zur Zero Waste City öffnet. Damit Leipzig dem „Null Abfall“-Ziel näher kommt, muss weniger weggeworfen werden, muss mehr recycelt, müssen Produkte länger genutzt werden. Allein 20 Kilogramm Elektroschrott fallen laut Bundesumweltministerium jährlich pro Kopf in Deutschland an. Das Problem: Vor allem kleine Geräte landen im Hausmüll statt auf dem Recyclinghof. So gehen Rohstoffe verloren, die andernorts aus der Erde geholt werden müssen – mit unumkehrbaren Schäden für Mensch und Natur.

Eine Frau und ein Junge nähen zusammen mit einer Nähmaschine.

Die Textil-Sprechstunde wird von Jung und Alt genutzt. Foto: Lauren McKnown

Das Reparaturcafé steuert dagegen. An drei Tagen in der Woche bieten 23 aktive Helfer offene Reparatursprechstunden: dienstags und mittwochs von 16 bis 20 Uhr Technik, dienstags zusätzlich noch Heimwerken, und donnerstags von 16 bis 18 Uhr Textil. „Es kommen sehr unterschiedliche Menschen zusammen“, erzählt Lisa Kuhley. „Sowohl Ältere, die das Reparieren noch aus DDR-Zeiten kennen – wie Wolfgang Tietze –, als auch Jüngere, Studierende, Auszubildende, Familien mit Kindern. Die Leute finden auch die Begegnung und den Austausch hier schön, schätzen unser Empowerment, gehen oftmals mit dem Gefühl nach Hause, keine zwei linke Hände zu haben“, sagt die 37-Jahre alte Kulturwissenschaftlerin. „Wer die Erfahrung gemacht hat, selbst etwas repariert oder konfiguriert zu haben, mit eigener Kraft, geht gestärkt hier heraus und achtsamer und sorgsamer mit dem um, was er mit seinen eigenen Händen geschaffen hat.“

Teilen statt Besitzen

Die Idee des Reparaturcafés stammt aus den Amsterdam, wo die Journalistin Martine Postma 2009 das erste seiner Art eröffnete. Damit sollte nicht nur Abfall reduziert, sondern auch Nachbarschaft gepflegt werden. Postmas Idee geht auch in Leipzig auf: Woche für Woche treffen sich bis zu 30 Menschen in der Merseburger 102, um in Gemeinschaft aus kaputt wieder ganz zu machen. Sie löten, nähen, kleben was das Zeug hält. Das Werkzeug wird vom Café gestellt und gemeinsam genutzt. Jeder gibt, was er kann – Zeit, Wissen, Empathie und auch Spendengeld. „Manchmal auch Kuchen, Würstchen oder Schokolade“, sagt Lisa Kuhley.

Ihrer Statistik nach sind 84 Prozent der Dinge, die Menschen in die Reparaturwerkstatt tragen, auch reparabel. Beim Café kaputt liegt die Erfolgsquote im bisherigen Jahr bei 70 Prozent. Insgesamt wurden seit 1. Januar 2022 rund 280 Textilien, Elektro- und Haushaltsgeräte repariert. In diesem Jahr wurden dadurch umgerechnet fünf Tonnen CO2 gespart.

Für seinen nachhaltigen Effekt ist das Café-kaputt-Team in diesem Jahr in der Kategorie „Engagiert in Leipzig“ mit dem Leipziger Zukunftspreis 2022 ausgezeichnet worden. Für die Jury – bestehend aus den Stiftern: Stadt Leipzig, Forum Nachhaltiges Leipzig, Leipziger Gruppe, VNG Stiftung, Sparkasse Leipzig, WEV Westsächsische Entsorgungs- und Verwertungsgesellschaft – war der Beitrag der Reparaturinitiative für einen ressourcenschonenden Lebensstil und eine zukunftsfähige Ökonomie ausschlaggebend. Weitere Preisträger des Leipziger Zukunftspreises 2022 sind die Digitalisierungsinitiative „TechTeens – IT Starts with You“ der Joblinge gAG sowie der Stromspar-Check der Caritas.

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