Der Alltag eines Blinden in Leipzig

von Leipziger Leben | 06.12.2019

Wir nehmen Sie mit in den Alltag eines Blinden in Leipzig. Goerdelerring, Rush-Hour am Freitagnachmittag: Wolfram Ehms (76) arbeitete jahrzehntelang als Bauleiter und ist vor sieben Jahren erblindet. 

Wolfram Ehms geht über eine Ampel. Er hat einen weißen Langstock in der linken Hand und benutzt diesen beim Laufen.

Der gebürtige Leipziger ist Mitglied in der städtischen Arbeitsgruppe „Barrierefreiheit und Blindenleitsystem“. Mehrmals in der Woche fährt er mit Bus und Straßenbahn durch die Pleißestadt und besucht auch gerne Kabaretts und das Fußball-Stadion.

Ein gelber Ampeltaster mit einem integrierten Zwei-Sinne-System für blinde und sehbehinderte Menschen.

Ampelmast mit gelber Taste und einem integrierten Zwei-Sinne-System für Blinde und Sehbehinderte.

„Ein lautes Klingeln der Straßenbahn, schnelle Schritte direkt neben mir, Bremsen quietschen, ein Kind schreit ängstlich nach seiner Mutter. Der Goerdelerring empfängt mich mit ganz vielen Geräuschen. Sie vermischen sich – es ist laut. Ich versuche, sie zu trennen. Und bin froh, meinen Teleskopstock mit der rollenden Kugel an der Spitze bei mir zu haben. Vor allem muss ich mich aber auf mein Gehör verlassen. Es gibt Ampeln mit Zwei-Sinne-System für uns Blinde und Sehbehinderte: Zuerst muss ich am gelben Kästchen die Taste drücken. Tack-Tack-Tack. Das akustische Signal sagt mir, dass ich stehen bleiben muss. Ein Piepen bedeutet, ich darf gehen. Unter dem Kasten befindet sich zudem eine vibrierende Metallplatte mit einem Pfeil. Der sagt mir, in welche Richtung ich die Straße überqueren muss. Ein großes Dilemma sind die Mittelinseln ohne Ampelregelung. Die gibt es hier am Ring und am Leipziger Hauptbahnhof. Selbst für Sehende sind sie eine Herausforderung. Ich bin darauf angewiesen, dass ich anhand meines Stockes von den Straßenbahnfahrern erkannt werde und diese wenn nötig klingeln. Hin und wieder sorgen in der City auch Fahrradfahrer, die mir zu nah kommen oder Fußgängerüberwege queren, für Schrecksekunden. Da stockt mir manchmal der Atem – heute habe ich Glück. Die Doppel-Haltestellen am Goerdelerring haben Blindenleitstreifen, an denen ich mich orientiere. Das Auffindefeld am Boden ertaste ich mit dem Stock. Es zeigt mir den Anfang und das Ende der Haltestelle an. Ich muss und kann mich darauf verlassen, dass der Fahrer die Bahn am Einstiegsfeld zum Halten bringt und die Tür sich genau vor mir öffnet – für die Rückfahrt in die gewohnte und sichere Umgebung daheim.“

Gegenseitige Rücksichtnahme im Straßenverkehr

Wolfram Ehms läuft über Straßenbahnschienen. Er hat einen weißen Langstock in der linken Hand und benutzt diesen beim Laufen.

Wolfram Ehms überquert mit seinem Teleskopstock die Straßenbahngleise an der Haltestelle Goerdelerring.

Einen Appell zur gegenseitigen Rücksichtnahme richtet die Beauftragte für Menschen mit Behinderung bei der Stadt Leipzig, Carola Hiersemann, an alle Verkehrsteilnehmer. Ihr Motto lautet Sensibilisierung statt Abstrafung: Das Verhalten einiger Fahrradfahrer gegenüber blinden und sehschwachen Menschen auf den Fuß- und Übergängen sei unüberlegt und bedarf der Aufklärung. Auch Autofahrer sollten beim kreativen Parken an Einmündungen von Kreuzungen und auf Gehwegen darüber nachdenken, dass sie ein großes Risiko für Blinde darstellen. Häufig sind die Blindenleitsysteme in der Innenstadt von Lieferwagen oder Gastronomen zugestellt oder Zweiräder werden an den Bügeln nicht ordnungsgemäß mittig abgestellt. Der Blinde ist gezwungen, mit seinem Taststock den Leitstreifen zu verlassen und verliert demzufolge die Orientierung. Deshalb die Bitte an alle Leipziger – Augen auf beim Parken und Fahrradabstellen, um den Alltag eines Blinden einfacher zu gestalten. Damit sich behinderte Menschen selbstständig und unabhängig im öffentlichen Raum bewegen können, sorgen die Leipziger Verkehrsbetriebe beim Neubau von Haltestellen für die nötige Barrierefreiheit für Rollstuhlfahrer und ein Blindenleitsystem vor Ort.

Der Alltag eines Blinden in Leipzig – Spezielle Angebote

In Leipzig bieten einige Institutionen spezielle Angebote für Blinde. Beispielsweise lädt das Schauspiel Leipzig monatlich mindestens ein Mal zu einer Vorstellung mit Live-Audiodeskription (akustischer Bildbeschreibung) ein. Im Grassimuseum und im Stadtgeschichtlichen Museum gibt es spezielle Tastangebote in den Ausstellungen. Der Duft- und Tastgarten ist bei Blinden sehr beliebt. Auch der Wildpark hält für Menschen mit Sehbehinderungen Hinweistafeln in Brailleschrift bereit.

Der Ball von RB Leipzig rollt auch für Blinde und Sehschwache – an jedem Spieltag wird direkt im Stadion für eine „Spielbeschreibung“ gesorgt. Die Deutsche Zentralbücherei für Blinde (DZB), schon 1894 in Leipzig gegründet, stellt nicht nur Literatur für Blinde bereit, sondern produziert auch Texte und Noten in Brailleschrift, Bilder als Reliefs und Hörbücher im DAISY-Hörbuchformat.

Dieser Artikel erschien im Leipziger Leben 05/2017.

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