Von Kohle zu Wasserstoff: Helge Wagner und sein Leben mit dem Kraftwerk

von Peter Krutsch | 26.01.2022

Auf dem Stadtwerke-Standort Süd, wo heute Leipzigs neues Heizkraftwerk entsteht, arbeitete Helge Wagner schon zu DDR-Zeiten – im alten Kraftwerk, das noch mit Braunkohle betrieben wurde. Wir haben mit ihm eine Reise in die Vergangenheit gemacht…

Helge Wagner steht in einer geöffneten Tür und lächelt in die Kamera. Er trägt Schutzkleidung und einen Helm.
Helge Wagner steht vor einer orangen Turbine. Er trägt Schutzkleidung und einen Helm. Er spricht.

An seiner „alten Wirkungsstätte“: Helge Wagner vor der Turbine im stillgelegten Maschinenhaus.

Zeitreisen gibt es nicht nur im Kino. Für die Rückkehr ins Jahr 1999 benötigt Helge Wagner nur einen Schlüssel und fünf Sekunden. Zweimal – klack, klack – dreht er ihn im Schloss der Eingangstür zum einstigen Kraftwerk „Ernst Thälmann“ um. Er tritt ein. Das Licht funktioniert noch. Zum Vorschein kommt die alte, riesige, abgewetzte Holztreppe, über die er und seine Kollegen täglich auf Arbeit und in den Feierabend gingen. Angestaubte Wände. Ein verblichenes „Notausgang“-Schild. Der dunkle Eingang zu den Umzugsräumen. Das verwaiste Meister-Büro mit dreckigem Fensterchen. Ein Labyrinth, das bis zur Decke wächst: Rohre für Dampf und Kondensat. Alles wie vor 23 Jahren. 

„Damals habe ich hier das Licht ausgemacht“, erinnert sich der einstige Produktionsleiter. Das alte Kraftwerksgebäude wurde geschlossen. 1996 war bereits der Kohlebetrieb abgestellt worden. Die Fernwärme kam nun aus dem Kraftwerk Lippendorf. Wagner übernahm andere Aufgaben. Heute ist er bei den Leipziger Stadtwerken Teamleiter für dezentrale Anlagen, kümmert sich beispielsweise um Blockheizkraftwerke und die neue Solarthermie-Anlage in Lausen.

Thomas Brandenburg und Helge Wagner geben sich einen Fist-Bump. Sie lachen.

Kollegen: Mit Thomas Brandenburg (r.) vor der Baustelle des neuen HKW Leipzig Süd.

„Dass wir hier, auf meinem alten Arbeitsgelände, mal ein neues Heizkraftwerk mit modernster Gastechnologie und potenzieller Wasserstofffähigkeit errichten, hätte ich nie für möglich gehalten“, sagt Wagner. Seit 2019 wächst nur wenige Meter von seiner alten Halle entfernt das neue HKW Leipzig Süd rasant in die Höhe. Ende des Jahres soll es am Netz sein, sagt dessen Projektleiter Thomas Brandenburg. Es wird dann eine elektrische Leistung von 125 Megawatt haben. „Zum Betreiben benötigen wir ein Dutzend Personen“, so Brandenburg. Wagners Belegschaft zählte damals 250 Kollegen – für eine Leistung von 50 Megawatt.

Von der Kohle zum Wasserstoff

Das neue Kraftwerk steht für Leipzigs nachhaltige Fernwärmezukunft. Für Leipzigs Braunkohle-Vergangenheit steht das Nachbargebäude mit der Ziegelsteinfassade und dem abgebrochenen, einst 140 Meter hohen Schornstein: Wagners alter Arbeitsplatz. Den sogenannten Standort Süd hatten die Städtischen Elektrizitätswerke zwischen 1908 und 1910 errichtet. Fast direkt vorm Werkstor lag die Wohnung, in die Wagners Familie 1963 zog. Schaute der kleine Helge über die Fritz-Austel-Straße (heute Bornaische), konnte er gegenüber das rauchende Kraftwerk sehen – und die nahe Brücke über die Eisenbahngleise. „An der Kraftwerks-Haltestelle kam die Kohle an und wurde die Asche abtransportiert. Es gab eine feuerlose Lokomotive, die per Dampfspeicher betrieben wurde. So konnte kein Funkenflug die Kohle entzünden. Wenn die Lok unter der Brücke hindurchfuhr, haben wir uns als Kinder in den Dampf gestellt.“

Auf einer schwarz-weiß-Aufnahme sieht man das Kraftwerk. Es hat zwei hohe Türme.

Damals ragten noch zwei Schornsteine in den Himmel: das Kraftwerk im Jahr 1980.

1976 – das Werk firmierte inzwischen unter VEB Energiekombinat – begann der junge Wagner einen Steinwurf von seiner Wohnung entfernt seine Lehre als Maschinist für Wärmekraftwerksanlagen. „Ich kenne keinen Kollegen, der einen kürzeren Arbeitsweg hatte“, sagt er heute lachend. „Von Kesselhaus über Maschinenhaus und Aufbereitung bis zur Entaschung und Bekohlung – ich habe in allen Bereichen gelernt. Danach konnte man mich überall hinstecken.“

Zwei Jahre später fing er als Facharbeiter an. „Das Maschinenhaus war meine Wirkungsstätte.“ Wenn der heute 62-jährige Vater zweier Söhne noch einmal in die riesige Halle hochsteigt und sich der menschenleere Raum, in dem jahrzehntelang Strom erzeugt wurde, mit jedem Treppenschritt weiter öffnet, dann kann man spüren, wie es in Wagner arbeitet. Erinnerungen. Bilder. Lebenszeit. Eine Turbine steht noch im Raum. Die andere war in den 1990ern nach Indien verkauft worden. Wagner kennt noch alle Teile im Kraftwerk ganz genau. Denn hier drehte er Tag für Tag seine Runden. „Das waren täglich mehrere Kilometer. Ob ich das heute noch schaffen würde, weiß ich gar nicht mehr.“ Den Taubendreck auf dem Kachelfußboden gab es damals nicht. „Das war bei mir immer sauber. Probleme mit den Tauben haben wir damals – wie so vieles – selbst gelöst. Ich habe mir bei Waffen-Moritz in der Innenstadt ein Gewehr gekauft. Ich hatte ja einen Schein und war ein guter Schütze.“

„Es waren einfach andere Zeiten“

Helge Wagner steht im Inneren des Kraftwerks und beugt sich zum Arbeiten gen Boden.

Im Inneren des alten Kraftwerks.

Fragt man das Stadtwerke-Urgestein nach dem größten Unterschied zwischen damals und heute, kommt die Antwort prompt: „Es war alles manuell und oft störanfällig. Es verging kein Tag, an dem nicht improvisiert werden musste. Aber wir haben Leipzig verlässlich mit Wärme und Strom versorgt. Gerade in Extremsituationen wie dem Winter 1978/79, als die Braunkohle festgefroren war, mussten wir richtig erfinderisch sein. Wir haben es irgendwie immer geschafft. Indem wir uns selbst geholfen haben. Wir hatten ja alles im Kraftwerk vor Ort: Mechaniker, Dreher, Maler, Elektriker, Köche. Sogar einen Bademeister gab es. Denn Wannen und Duschen waren wichtig. Am Ende des Tages hattest du immer schwarze Hände.“

Nicht nur im und überm Kraftwerk, auch in vielen Stadtteilen war der Ruß der Braunkohle oft allgegenwärtig. Umwelt-Restriktionen habe es zwar auf dem Papier gegeben, so Wagner. Aber am Ende sei nur wichtig gewesen, dass der Laden lief. „Natürlich hatten wir immer Filter in Betrieb. Aber die haben eben nicht alles rausgefiltert. Die Kompressoren schluckten Öl ohne Ende. Es waren einfach andere Zeiten. Kein Vergleich zur heutigen Technik und zum heutigen Umweltbewusstsein. Diesen Zuständen trauere ich wirklich nicht hinterher.“

Ein ganzes Berufsleben bei den Stadtwerken – was bleibt davon? „Vor allem viele Erinnerungen an Kollegen, von denen ich gelernt habe und die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin“, antwortet Wagner. „Es war eine anstrengende Zeit, aber es hat auch Spaß gemacht. Ich konnte so viel erleben – vom Industriezeitalter bis zur heutigen digitalen Technik.“ Und außerdem, sagt er, sei sein Berufsleben ja noch gar nicht beendet. Das neue HKW, das wolle er unbedingt noch erleben. „Vor allem die neue Wasserstoff-Technik interessiert mich. Das schaue ich mir auf alle Fälle noch live an.“

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