Wo wohnt das Wissen?
Die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig bietet ihren Nutzern Millionen von Büchern, Schallplatten, Karten, Comics, Zeitungen und CDs. Hier wohnt das Wissen und es ist alles verfügbar, was es gibt. Wie kann das gehen?

Ja, ja, die Digitalisierung. Jeder spricht von ihr, jeder nutzt sie, jeder weiß, dass sie unsere Welt umkrempelt, wie es vor 200 Jahren nicht einmal die industrielle Revolution vermochte. Papier in einer digitalen Welt? Ein Auslaufmodell, könnte man glauben. Doch stimmt das tatsächlich? Und wie gehen Institutionen die Digitalisierung an, die von Haus aus mit Papier in all seinen Formaten zu tun haben? Viele dieser Fragen werden ganz ohne Worte bereits beantwortet, sobald man vor dem Haupteingang der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) in Leipzig steht. Vor sich
blickt man auf das altehrwürdige Eingangsportal des Hauptgebäudes, das Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet wurde. Schaut man jedoch nach links, prangt dort ein moderner Bau, der sich mit seiner gläsernen, gewundenen Architektur an das Hauptgebäude anschmiegt und die alte Bausubstanz in sich spiegelt. Tradition und Moderne lassen sich offensichtlich in der Architektur verbinden – ein Symbol für das Selbstverständnis der Deutschen Nationalbibliothek in der digitalen Zeitenwende.
Zur Einstimmung ein paar erstaunliche Zahlen: Da die DNB, einst von Bürgern und Kaufleuten Leipzigs gegründet, jedes Buch in deutscher Sprache oder aus deutscher Produktion vorrätig
haben muss, beläuft sich ihr Bestand derzeit auf über 30 Millionen anfassbare Medien. Jeden Tag kommen rund 2.000 neue Werke hinzu, also etwa 730.000 pro Jahr. Zugleich erhält die DNB
pro Arbeitstag über 5.600 digitale Erzeugnisse wie E-Books, E-Paper und Musik, die archiviert und zur Verfügung gestellt werden.
Wo wohnt das Wissen?

„Früher hat man Bücher in Holzfässern transportiert, heute kommen sie via Glasfaser zu uns.“ Der Mann, der den Stand der Dinge und der Zukunft auf den Punkt bringt, heißt Michael Fernau. Der Direktor und Repräsentant der Generaldirektorin der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig ist selbst ein wandelndes Buch voller Wissen, in dem die unverhohlene Neugier auf die Chancen der Digitalisierung gleich auf der ersten Seite steht. „Zum einen digitalisieren wir Schriften, die man aufgrund ihres Zustands nicht mehr in die Benutzung geben kann oder die vergriffen sind.“ Aber auch Werke neueren Datums werden in die Welt der Binärcodes übersetzt,„allerdings nur der Titel und das Inhaltsverzeichnis. Denn beim eigentlichen Inhalt hat das europäische Urheberrecht den Daumen drauf.“ Dennoch hat bereits diese Teildigitalisierung klare Vorteile. Wer ein Buch in der Datenbank der Bibliothek sucht, erhält dank der bisher knapp zwei Millionen digitalen Inhaltsverzeichnisse eine ungleich bessere Trefferquote. Sonst wären Titel wie „Die holländische Krankheit im Iran“ eher irreführend – steckt dahinter doch weder ein medizinisches oder islamwissenschaftliches Thema, sondern tatsächlich ein Phänomen aus der Volkswirtschaft.
Überall reinschnuppern
Richtig spannend wird es, wenn die DNB den Blick auf die Chancen der digitalen Technologien richtet. Mit Partnern initiiert sie eigene Digitalisierungsprojekte oder Veranstaltungen wie „Crossing Borders“, zu der die Bibliothek internationale Digitalexperten aus den unterschiedlichsten Branchen versammelt: Musik-DJs, Forscher, IT-Experten und Architekten, die sich untereinander und mit der DNB austauschen können. „Wir strecken die Fühler aus und wollen erfahren: Was treibt euch um? Was gibt es schon? Und was zeichnet sich ab?“ Ein Weg, um Inspirationen aus anderen Branchen zu bekommen und für die DNB zu übersetzen.

Virtuell vereint
Ein ganz anderes Anwendungsgebiet der Digitalisierung hat man als Laie kaum auf dem Schirm: die Beutekunst. In Kriegen und anderen turbulenten Zeiten wurden geschriebene oder gedruckte Erzeugnisse von ihrem angestammten Ort teilweise oder vollständig entwendet. Mithilfe digitaler Technologien können ihre weltweit verstreuten Einzelteile wieder vereint und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. „Ein Beispiel ist der Codex Sinaiticus, die Bibel auf Griechisch, handgeschrieben vor über 1.600 Jahren.“ Ursprünglich am Sinai beheimatet, wurden Teile des Manuskripts nach Russland, England und Deutschland gebracht. Heute liegen sie im Katharinenkloster auf dem Sinai, in der British Library, in der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg und in der Universitätsbibliothek Leipzig. Deren Leiter Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider initiierte das Codex Sinaiticus Project, um die Manuskripte zu digitalisieren und virtuell wieder zusammenzuführen. „Das ist eines der großen Geschenke der Digitalisierung“, ist Michael Fernau eine flexible Raumausstattung sowie neue Präsentationstechnologien zur Verfügung stellen. „Der holografische Projektor, über den wir gerade nachdenken, ist in fünf Jahren vielleicht nicht mehr aktuell. Da gilt es, noch weiter in die Zukunft zu schauen – eine großartige Aufgabe!“
Welche Herausforderungen in der Zukunft die Unternehmen der Leipziger Gruppe beschäftigen, lesen Sie hier.
Dieser Artikel erschien im Leipziger Leben 01/2019.